Aus dem Nachwort
Fabeln sind aus der Mode, nicht
einmal am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig werden sie
noch gelehrt. Doch Ursula Schütt schert sich nicht um
Moden. Sie stellt die Fabel, neben Märchen und Sagen
die älteste Erzählform der Menschheit, vor ein literaturtheoretisches
Gericht. Die Fabel belehre mit erhobenem Zeigefinger, wirft
ihr die Anklage mit erhobenem Zeigefinger vor, ihr Moralisieren
widerspreche dem Zeitgeist, moralisiert der Gelehrte.
Die Fabeln von Ursula Schütt beweisen, wie lebendig die
totgesagte Gattung sein kann, wenn sie sich auf das Hier und
Heute einläßt. Fabulieren heißt Geschichten
erfinden. Und Allzubekanntes in Gleichnissen zu verfremden,
der Menschen Tun und Lassen in der Welt der Tiere und Dinge
zu spiegeln, ist das Wesen aller Poesie. Mit den Mitteln einer
mehr als zweitausendjährigen Erzählform reduzieren
die hier versammelten Fabeln unser ach so kompliziertes Dasein
in den hoch komplexen Strukturen der Moderne auf einfache
Geschichten. Und plötzlich sehen wir, daß unser
hektisches Treiben sich noch immer um die alten Fragen dreht,
die Äsop vor 2600 Jahren ins Tierische gewendet hat:
um Habgier, List, Eitelkeit und Sehnsucht nach Anerkennung.
Weil sie uns von diesen menschlich allzumenschlichen Schwächen
mit der Kraft der Abstraktion erzählen – lakonisch
knapp, verkürzt auf das Wesentliche, auf den Witz der
Sache selbst – sind die Geschichten echte neue Fabeln,
die eine Moral, eine einfache Lehre enthalten, ohne belehrend
zu moralisieren. (...)
Während die Fabeln Heutiges ins Gewand vergangener Formen
kleiden, erzählt Siegfried Schütt alte Märchen
neu, webt er unsere Erfahrungen in die überkommenen Muster
ein: da werden ausgesetzte Haustiere nicht zu Stadtmusikanten,
sondern enden vor Gericht, kündet ein „Prinz Asip“
von der Ratlosigkeit mancher Pisa-Studie und erweisen sich
Hänsel und Gretel als verwahrlost gefühlsarme Kids.
In beiden, den Fabeln und Märchen, geht es um das Hier
und Jetzt, das uns auf dem Umweg scheinbar veralteter Formen
überraschend nahe kommt – mal grimmig, voll boshafter
Lakonie, die befreiend auflachen läßt, mal verhalten
ironisch mit feinem Humor, der zum Nachdenken verführt.
Horst Peter Meyer, 1947 in Weimar geboren und in der Klassikerstadt
wie ein Eremit im Verborgenen seiner Malerei lebend, hat die
Texte mit wundervoll skurrilen Pinselzeichnungen versehen:
sparsam verknappt und kraftvoll üppig zugleich.
Leseprobe
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme
Eine Mücke hatte sich in
das Büro einer Schnecke verirrt. Die machte sie zum Elefanten,
so daß noch eine Vielzahl anderer Schnecken eingestellt
werden mußten, die alle damit beschäftigt waren,
aus dem Elefanten wieder eine Mücke zu machen.
Die Metamorphose der Mücke war so beeindruckend, daß
das Beispiel Schule machte.
Das grosse Fressen
Ein Bär gründete eine
Futterbank und versprach allen Tieren, den Teil der Beute,
den sie nicht sofort auffraßen, vor Raubgesindel zu
sichern, damit sie auch in Notzeiten, im Alter und bei Krankheit
versorgt seien.
Nun hatte der Bär genügend zu fressen.
Die Tiere wußten zu schätzen, daß sie immer
dann, wenn sie zu wenig erbeutet hatten, vom Bären aus
der Futterbank versorgt wurden. Sie konnten auch von den Reserven
der anderen bekommen, wenn sie dem Bären versprachen,
dieses Futter und ein Geringes mehr bis zu einem bestimmten
Zeitpunkt zurückzugeben.
Der Bär fraß gierig. Das bemerkte niemand, solange
die Tiere von den Vorräten bekamen, was sie brauchten.
Aber eines Tages war die Futterbank leer.
Die Tiere beklagten sich beim Uhu, den sie für klug und
weise hielten, und verlangten, daß der Bär verjagt
werde.
„Niemand kann eure Reserven so gut vor Raubgesindel
schützen wie der Bär“, sagte der Uhu. „Eure
Vorräte sind sicher. Der Bär muß versprechen,
nicht mehr so gierig zu sein. Etwas steht ihm für die
Sicherung eurer Vorräte jedoch zu.“
Auf Anweisung des Uhus lieferten die Tiere den größten
Teil ihrer Beute ab, damit der Verlust ausgeglichen werden
konnte, der durch das große Fressen des Bären entstanden
war.
Der Bär rieb sich den Bauch.
Der Fabel fehlt die Moral? Nicht nur der Fabel.
Die Presse urteilt:
Kaum zu glauben: Eine Südthüringerin,
Ursula Schütt, hat die Fabel zu neuem Leben erweckt ...
Fabelhaft ist der Erzählerin Art, die alte Form mit neuen,
zeitgemäßen Inhalten zu füllen. (...) Die
Schüttschen Fabeln gehören in jeden belesenen Familienhaushalt.
Weil sie wie zu Äsops Zeiten von menschlicher Habgier,
Eitelkeit und Geltungssucht erzählen oder - in Umkehrung
- vom Maßhalten, vom Glück der Bescheidenheit und
Genügsamkeit.
(...) Und noch einer fabuliert da auf ganz eigene Weise mit:
der Weimarer Maler Horst Peter Meyer, dessen Tuschzeichnungen
das bibliophile Bändchen adeln.
Frank Quilitzsch in Thüringische Landeszeitung
(TLZ)
Dass Fabeln und Märchen
noch immer die Verwerfungen der Zeit sichtbar machen können,
beweisen Ursula und Siegfried Schütt mit ihrem Buch "Das
große Fressen" ...
Das Bändchen wurde optisch exquisit aufgewertet mit Zeichnungen
des bekannten Weimarer Grafikers Horst Peter Meyer und mag
somit eine rechte Liebhaber-Ausgabe sein.
Freies Wort
(Suhl)
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