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                    Aus dem Nachwort 
                     
                     Ein Mann, dessen Texte die Leserschaft 
                    spalten: die einen bewundern ihn als brillanten Stilisten, 
                    die anderen verachten einen Saulus, der sich zum Paulus gewendet 
                    habe. Liebe oder Hass, ganz oder gar nicht. Das ist Hans-Dieter 
                    Schütt: 1948 in Ohrdruf, am Rand des Thüringer Waldes 
                    geboren, Gummifacharbeiter, Buchhändlerlehring, Student 
                    der Dramaturgie und Theaterwissen-schaften, seit 1973 Filmkritiker 
                    der Jungen Welt, von 1984 bis zum Wendeherbst Chefredakteur 
                    dieser Jugendzeitung der DDR. Zugleich Sekretär im Zentralrat 
                    der FDJ, ein Agitator, Einpeitscher der Staatsdoktrin?  
                    So führt ihn Wikipedia noch heute vor, jenes Zeitgeistlexikon, 
                    in dem jeder mitschreiben kann, aber nur wenige im Verborgenen 
                    entscheiden, was veröffentlicht wird: als „Feingeist 
                    und Scharfmacher, ‘kurz: ein Demagoge’“. 
                    Man zitiert einen Rezensenten von Schütts Autobiografie 
                    Glücklich beschädigt (2009), nicht den Autor selbst; 
                    fixe Urteile werden abgeschrieben und als Wahrheiten verbreitet, 
                    statt die Leser zu ermutigen, sich ein eigenes Bild zu machen, 
                    die Dinge mit eigenen Augen zu sehen. Dabei hatte Schütt 
                    in dem Buch praktiziert, was andere fordern: Aufarbeitung 
                    von Geschichte als dem, was mit und durch uns selbst geschieht. 
                    Und das nicht nur in diesem einen, in all seinen mehr als 
                    30 Büchern, die er seit der Wende schrieb, in Biografien, 
                    Essays und Gesprächen fragt er sich und sein Gegenüber 
                    nach dem anders Möglichen jenseits gängiger Karrieren. 
                    Die Wende, der Absturz vom Chefredakteur der zweitgrößten 
                    DDR-Tageszeitung zum Nichts, zum vogelfreien Journalisten, 
                    der neu beginnen muss, hat auch ihn befreit, sein Denken und 
                    Sprechen von verinnerlichten Zwängen entbunden. Neben 
                    seinen Büchern zeugt das Feuilleton des Neuen Deutschlands 
                    davon, in dessen Redaktion Hans-Dieter Schütt von 1992 
                    bis 2012 gearbeitet und den Wandel des einstigen Parteiorgans 
                    zu einer streitbaren linken Tageszeitung maßgeblich 
                    mitgeprägt hat. 
                    Manche lasen das Blatt nur seiner Kritiken, Glossen und Essays 
                    wegen. Eine Auswahl vereint dieser Band: Porträts von 
                    Regisseuren, Schauspielern und Schriftstellern, von Grenzgängern 
                    und Abenteurern, ein längst überfälliges Loblied 
                    auf alle Statisten und Nebendarsteller, Überlegungen 
                    zum Erfolgsgeheimnis von Chaplin und Donald Duck bis hin zu 
                    einem kleinen Versuch über das Licht. 
                    Immer wieder geht es um die Schärfung unserer Wahrnehmungen, 
                    um das genauere Lesen, Hinsehen und -hören. Den Unbedingten, 
                    den Brennenden, die sich in ihrer Arbeit verzehren und stets 
                    neu erfinden, gilt Schütts Augenmerk, deren Lebensgesetze 
                    versucht er in ihren je eigenen Widersprüchen zu ergründen. 
                    Vielleicht war für solch einen lebendigen Blick gerade 
                    das befreiende Scheitern im eigenen Leben vonnöten. Während 
                    Siegen verdummt, wie Nietzsche den Deutschen schon 1871 ins 
                    Stammbuch schrieb, nötigen Niederlagen zur Neuorientierung. 
                    Wer nicht gleich wieder neuen Fahnen folgt, hat die Chance, 
                    sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu lösen, 
                    wie Kant einst Aufklärung definierte. 
                    Freilich gab es in der DDR auch wache Geister, die schon immer 
                    die Distanz zur Macht gewahrt haben. Leben und Werk von Hans 
                    Ticha stehen dafür exemplarisch: 1940 im böhmischen 
                    Tetschen geboren, wuchs er in Schkeuditz auf, studierte Pädagogik 
                    in Leipzig und, nach kurzem Lehrerdasein, Kunst in Berlin-Weißensee. 
                    Seit 1970 ist Ticha freischaffender Maler und Grafiker, bis 
                    1990 im Prenzlauer Berg, danach in Mainz und seit 1993 im 
                    Hessischen Maintal. Er galt – neben Wasja Götze 
                    – als der Pop-Künstler der DDR, weil seine Vorliebe 
                    zu den bunten Farben und plakativen Figuren der Pop-Art von 
                    Anbeginn auffielen. Kenner der Kunstgeschichte verweisen auf 
                    Fernand Léger, Bauhausmaler wie Oskar Schlemmer und 
                    die russischen Konstruktivisten als seine Vorbilder. Doch 
                    wirklich erkannt ist damit nichts. Wie ein guter Schriftsteller 
                    seine Vorgänger nicht zitiert, um die eigene Bildung 
                    auszustellen, so nimmt ein Maler keine Anleihen bei den Großen 
                    der Zunft, um sich damit zu schmücken. Tichas Beitrag 
                    zur Pop-Art ist ganz und gar eigenständig: während 
                    Warhol & Co im Westen die schrille Werbewelt in Kunst 
                    transformierten, spielte Ticha mit der Werbung des Ostens 
                    – den Verheißungen der Propaganda: „Reflexionen 
                    der Selbstdarstellung der Herrschenden“ nennt der Maler 
                    seine Bilder. 
                    Aber nicht nur die Herrschenden erscheinen darauf als entindividualisierte, 
                    stromlinienförmig angepasste Leiber mit kleinen Köpfen, 
                    jedermann, auch die Beherrschten, die sich frei dünken, 
                    werden als Marionetten an unsichtbaren Fäden kenntlich. 
                    Vor und nach der Wende. Und dies wiederum nicht im Gestus 
                    bierernster Entlarvung, sondern immer mit einem Lächeln: 
                    keine Häme, die nur andere in ihrer Schwäche zeigt, 
                    sondern ein befreiendes Verlachen des menschlich Allzumenschlichen. 
                    Das unterscheidet ihn von vielen, die sich heute ihrer einstigen 
                    Dissidenz rühmen: dass er nie nur Rechthaben wollte und 
                    zur Gegenwart nicht schweigt. So auch in diesem Buch: Da steht 
                    am Anfang ein Eintrichterer, der mit dem Kampfgruß der 
                    geballten Faust sein Gegenüber hypnotisiert. Gefolgt 
                    vom nackten Mann als Kräfteschema und einem namenlosen 
                    Artisten, der als Alleskönner durchs Leben radelt – 
                    wie wir alle. 
                    Und das verbindet die Grafiken mit den Texten: in beiden verdichten 
                    sich präzis geschärfte Wahrnehmungen.  
                     
                   
                  Leseprobe 
                     
                    Charlot: Der Luftmensch 
                    Das ist und bleibt Charlot: der unsterbliche, kleine, schmächtige 
                    Mann. In diesen zu weiten Hosen, in deren Taschen so viele 
                    Tragödien Platz haben. 
                    In diesen zu großen Schuhen, in denen er über sich 
                    selbst stolpern kann. In dieser zu großen Welt, in der 
                    er die Verlassenheit des Einsamen atmen muss, aber auch den 
                    Stolz des Außenseiters hervorkehren kann. Chaplins Charlot 
                    ist vielerlei. Er ist der Dandy als Vagabund, der Vagabund 
                    als Dandy, und von beidem auch gleich noch die Parodie. Ist 
                    aber auch die Inkarnation des beliebigen Mannes von der Straße: 
                    Die Melone soll ihm Würde verschaffen, der Schnauzbart 
                    demonstriert seine Eitelkeit; der Veston, das Stöckchen 
                    und seine Manieren wollen auf einer Wolke von Illusion den 
                    Eindruck von Galanterie begründen. Auch von Draufgängertum. 
                    Denn Charlot, im kecken, koketten Wiegegang, möchte vor 
                    der Welt bestehen, er will sie düpieren und sich zugleich 
                    selbst bemitleiden. Das Selbstmitleid macht ihn schöpferisch: 
                    Damit hat er Millionen Menschen zum Lachen gebracht. Nach 
                    dem Gesetz des Bruders Beckett: bis zum Äußersten 
                    gehen, dann wird Lachen entstehen. Auch wenn es oft nur der 
                    sehr bittere Spaß ist, in den alle Wege führen. 
                    Aber Charlot ist eine noch weit schwierigere Figur. In ihm 
                    hat Ahasver, der herumirrende Jude, ebenfalls Gestalt angenommen; 
                    er ist der Luftmensch, der Entwurzelte. Er will glücklich 
                    sein und überlebt deshalb alle Katastrophen. Aber er 
                    liebt seine Katastrophen, auch wenn er unglücklich ist. 
                    Charlot ist gleichzeitig diebisch und ehrlich, ängstlich 
                    und tapfer, aber es steckt vor allem auch die Bösartigkeit 
                    der Schwachen in ihm. Denn die sind oft am wenigsten gut, 
                    sie können es sich nicht leisten. Im Grunde ist er ein 
                    Kind, und zum Kind gehört, dass es kein Mitleid hat. 
                    Am Schluss des Filmes Modern Times sehen wir ein Paar von 
                    hinten, schon wird es eingekreist vom Schwarz der sich schließenden 
                    Kameralinse: die Wunderschöne mit luftigem Kleid und 
                    elegantem Hut. Daneben er, der Watschel, und so arg kleiner 
                    als sie. Da feiert die Unwahrscheinlichkeit einen Triumph, 
                    von der wir im Leben so vergeblich fantasieren: Wer findet 
                    schon seinen Traumpartner! Die Schluss-Szene zeigt, dass da 
                    ganz locker zusammengeht, was nicht zusammengehört. Und: 
                    Diese zwei, in ihren Äußerlichkeiten so krass auseinanderstrebenden 
                    Menschen tun nichts, um einander passend zu machen. Just das 
                    zu leben, was ist; nicht aber das, was nur zu scheinen hat, 
                    als ob es wäre - vielleicht die gütigste aller Botschaften. 
                    Doch lediglich im Film ist das Glück dann wie ein Singvogel, 
                    man malt ihn an die Wand und horcht dem ungeborenen Zwitschern 
                    nach.  
                     
                  Pressestimmen 
                  Hans-Dieter Schütts 
                    Essays »Draußen daheim. Wahrnehmungen« umkreisen 
                    schreibend das, was der Autor tagtäglich lebt, seine 
                    innere Haltung zu allem Außen. Das Welttheater des Wortes! 
                    Etwas herbeirufend, das unter dem brachialen Griff der Ideologen 
                    sofort erstürbe: eine Gegenwelt des Geistes. Essays sind 
                    im Sinne Mörikes Selbsthelferversuche inmitten einer 
                    zunehmend fremd werdenden Welt, aber darum keineswegs frei 
                    von Zwecken, nur liegen diese im Hintergründigen. 
                    (...) Wer mit Vergangenheit so beladen ist wie Schütt, 
                    der bremst, sperrt sich mit allem, was er an Worten hat gegen 
                    die Wiederkehr des erkannten Grundirrtums nicht nur des eigenen 
                    Lebens, auch der sozialistischen Bewegung: das Gefügigmachen 
                    von dem, was nicht ins eigene Konzept passt. 
                    Schütt hat kein Konzept, darum lohnt es überhaupt 
                    erst, ihn zu lesen, was immer auch Provokation zum Anderswerden 
                    bedeutet, das Betreten neuer Räume, auch wenn man dann 
                    plötzlich draußen vor der Tür steht: Immerhin 
                    nun im Freien! Die drei Holzschnitte von Hans Ticha (in der 
                    Vorzugsausgabe mit einem signierten Original) bringen das 
                    Thema »Artist« auf jenen Archetypus, wie er zwischen 
                    Höhlenmalerei und Ampelmännchen seit jeher den Spagat 
                    zwischen Ritus und Gebrauchsdesign probt. 
                    Gunnar Decker, in: Neues Deutschland, 3. Juni 2015 
                     
                     
                     
                    
                    
                    
                    
                    
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