Aus dem Nachwort
„Dem guten Frager
ist schon halb geantwortet.“
Friedrich Nietzsche
Es ist die Keimzelle
aller Literatur, der Ort, an dem sich Geist entzündet:
das Gespräch. Ein Spiel von Fragen und Antworten, literarisch
fixiert im Dialog, den Plato vor 2500 Jahren zur ersten Meisterschaft
brachte. Sokrates hatte ihn in die Geheimnisse der guten Gesprächsführung
eingeweiht, in die Maieutik – zu deutsch: Hebammenkunst.
Wie die Geburtshelferin soll der Fragende helfen, die im Innern
gereifte Frucht, die je eigene Weisheit des Befragten ans
Licht zu bringen.
Eine gefährliche Kunst. Denn es gibt Wahrheiten, die
man nicht wahrhaben möchte. Sokrates wurde zum Tode verurteilt,
weil er die Jugend verführt habe, verführt zum Nachdenken,
zum Hinterfragen allgemein gültig sein sollender Selbstverständlichkeiten,
die sich eben nicht von selbst verstehen. Deshalb sind die
Philosophen, die Weisheitsliebenden, „den Großen
verhaßt“, vor denen sie das Knie nicht beugen,
„verhaßt den Richtern, den amtsmäßigen
Schützern der Vorurteile“ und „verhaßt
den Völkern, die zu allen Zeiten die Sklaven der Tyrannen
sind“.
So steht es in Jacques der Fatalist und sein Herr von Denis
Diderot, gleichfalls ein Meisterwerk des Dialogs und eines
der Lieblingsbücher B. K. Tragelehns, der auch darin
seinem Lehrer folgt: Brecht. Hatte Plato die lebendigen Gespräche,
die Sokrates mit Passanten auf dem Markt von Athen führte,
zu Muster-Dialogen stilisiert, um damit sein eigenes Ideengebäude
zu veranschaulichen, ging Diderot den umgekehrten Weg, indem
er die philosophischen Weltsichten des Herrn und seines Knechts
in den Kontext ihres realen Weltverhaltens stellte. Auf diese
Weise werden die Ideen durchsichtig für gelebte Motive
und Haltungen, die sich dahinter verbergen. Ein Mittel, das
jedem Theater eignet, solange es Dialoge im Rahmen einer Handlung
in Szene setzt. Wo Sprechen und Handeln auseinanderfallen,
beginnt das eigentliche Spiel. Der Wahrnehmung dieser Differenz
galt Brechts Bemühen um Reflexion statt Einfühlung:
eine Schule des genauen Hinhörens und -sehens.
Der vorliegende Text ist beides: Gespräch und literarischer
Dialog. Ihm zugrunde liegt das Protokoll einer Befragung durch
Holger Teschke am 6. Juni 2012. Vordergründig geht es
um Tragelehns Inszenierung des Heiner Müller-Stücks
Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande 1984 in Dresden.
Das Besondere daran: der Regisseur lebte im Westen Deutschlands,
weil ihm die Arbeit im Osten verunmöglicht wurde, seitdem
er eben jenes Stück 1961 an einer Studentenbühne
uraufgeführt hatte. So wird das Gespräch zur Reflexion
deutsch-deutscher Theatererfahrungen und zeigen sich Größe
und Elend, präzise Schauspielkunst und peinliche Bevormundung
auf beiden Seiten.
Die feinen Differenzen herauszuarbeiten, war dann der zweite
Schritt. Durch ihn erst wird der Dialog zur literarische Form,
die das Gespräch über seinen Anlaß hinaus
zum Gegenstand intellektuellen Genusses macht. Die Sätze
folgen nicht nur dem Duktus des gesprochenen Wortes, sie verstärken
ihn bis hin zur Dialektfärbung. Wie der Sokratische Geburtshelfer
befreit der Frager die Erinnerungen des Befragten. Und die
Lust dieses „Veteranen“, den Aberwitz des „Resozismus“
im Abendlicht seines Untergangs zu verlachen, hütet ihn
vor Verklärung ebenso wie vor der Verteufelung des Vergangenen.
Sie ermutigt, weiterzufragen, das Hier und Heute nicht widerspruchslos
hinzunehmen.
Leseprobe
HORRID LAUGHTER
für K. D. Wolff
Karthago ist zerstört
und Cato spottet
Was ist Rom ohne seine Feinde Nichts
Untergegangen die Armada Spanien
Träumt und Britannia rules the waves usw.
Die Mauer ist gefallen in Berlin
Nein keine Wende nur ein Weiter so
Und wo ist jetzt der Feind Sieh in den Spiegel
Die Festung Europe wartet auf den Süden
Wie einst Rom hat gewartet auf den Norden
Shoppen und Ficken goldener Zeitvertreib
Dauernd der Lärm die Stille rasend Wer
Niemals zuvor gelacht hat lacht jetzt sehr
Und wer stets lachte lacht jetzt umso mehr
Pressestimmen
B.K. Tagelehns »Der
Resozismus im Abendlicht« bezeugt die eigene Existenz
als vornehmes Sich-Bescheiden im selbstgewählten Exil
des Randes. Der Ausstieg aus dem rasenden Theaterbetrieb wurde
ihm zum Einstieg ins Refugium des reflektierenden Ich. Abwechselnd
in Berlin und auf der Insel Ösel vor der Rigaer Bucht
lebend, gibt er für den Stroemfeld Verlag seit 2006 die
Reihe »Alt Englisches Theater Neu« heraus. Strawalde
hat die in (Alb)traumkulissen gespensternden Grafiken dazu
geliefert. In einem umfangreichen Gespräch mit Holger
Teschke geht Tragelehn auf Spurensuche im Umfeld der Uraufführung
von Heiner Müllers »Umsiedlerin«, die er
1961 als Regisseur an der Hochschule für Planökonomie
herausbrachte - mit dramatischen Folgen für ihn wie für
Müller. Dieser Dialog ist dann mehr als bloß ein
Stück Theatergeschichte: Realsetzung der sozialistischen
Utopie.
Gunnar Decker, in: Neues Deutschland, 3. Juni 2015
Holger Teschke stellt die Fragen knapp und präzise.
Er ist so gar nicht verliebt in die oft üblichen Selbstdarstellungsposen
des Interviewers, sondern stellt sich ganz in den Dienst der
Erinnerungen Tragelehns, des letzten Meisterschülers
von Bertolt Brecht und Freund Heiner Müllers. Und so
rankt sich das Gespräch vor allem um Fragen der Brecht-Nachfolge
und um die vielfältigen und konfliktreichen Bemühungen
Tragelehns um Stücke von Müller, besonders um "Die
Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande". Nach der Uraufführung
1961 wurde das Stück verboten, Müller zur Unperson
erklärt. Tragelehn, der das Stück an der Studentenbühne
der Hochschule für Ökonomie inszenierte, bekam Berufsverbot.
(...)
Wie der gebürtige Dresdner über all das erzählt,
ist ein Ereignis. (...) Es ist ein Interview von literarischem
Wert. B. K. Tragelehns Erinnerungen leben von Mutterwitz und
Ironie, von einem universellen weltliterarischen Gedächtnis,
von einer Fülle von Anekdoten, die man so noch nicht
gehört hat. Und der Leser erfährt so manches von
der komplizierten Theaterarbeit in beiden Deutschländern
...
Doch wer weiß heute noch eigentlich von all dem? ...
Man lese Tragelehns analytische Passagen zu Stücken Heiner
Müllers oder zu Erwin Strittmatters "Katzgraben".
Sie sind von glänzender analytischer Schärfe, frei
von trockenem literaturwissenschaftlichen Ballast, dafür
voller Lebensweisheit. Das ist ein Schatz, den es im Hegelschen
Sinne aufzuheben gilt, weil er lebendige Literaturgeschichte
vermittelt. (...) Tragelehns innere Kraft, sein Selbstbewusstsein
und sein Humor rühren auch daher, dass er sich als Teil
eines großen Kunstkonzertes fühlt. Auf ihm ruhen
das Gespräch und die Gedichte. Es spielt auf, um die
Zustände nicht hinzunehmen, sondern sie zu verändern.
(...)
Tragelehn, der schon immer gegen Denkverbote opponierte, der
trotz leidvoller Erfahrungen sich nicht scheut an (s)einem
Kommunismus-Begriff festzuhalten, der „wetterfest und
wandelbar ist“, wohl um die Verbrechen wissend, die
in dessen Namen geschahen, dem das Leben von Parteifunktionären
der DDR zur Hölle gemacht wurde, er hat eine Hoffnung
nicht aufgegeben, wenn er von einer „Poesie“ spricht
„als Vorschein einer vernünftigen Organisation
des Stoffwechsels von Mensch und Natur; gemeinschaftliche
Produktion von freien Individuen; Differenz steht nicht mehr
unter Strafe; Poesie – als Essenz der Sprache, eine
Essenz aus ihrem Kern genommen“.
Martin Straub, in: Palmbaum, Heft 2/2015
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